Wenn man als Garten-Neuling ein „gebrauchtes“ Haus mit Garten kauft, ist es recht wahrscheinlich, dass man nicht sofort alle Pflanzen erkennt, die auf dem Grundstück ihre Heimat haben. Also, mir ging das jedenfalls so. Auf diese Weise hat es sich ergeben, dass in einer Ecke des Grundstücks, von mir völlig unbemerkt, ein Wacholder-Baum wächst. Ich muss zugeben, dass ich diesen Baum nicht besonders schön finde, aber er bietet einen Sichtschutz zur Straße und verlangt keinerlei Pflege.
Im Laufe des letzten Jahres hat der Baum begonnen sich zur Seite zu neigen und sich durch seine „Schiefheit“ in mein Bewusstsein zu drängen. Mittlerweile ist er so schief, dass ich befürchte, er könne ganz umkippen und dabei schlimmstenfalls auf vorbeigehende Schulkinder fallen. Nun muss ich ihn also wahrnehmen und mich um ihn kümmern. Dieses Kümmern besteht allerdings darin, dass ich mir überlege, wie ich mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln, den schiefen Baum entfernen kann.
Den Stamm einfach mit der Kettensäge durchzuschneiden und den Baum auf die Straße kippen zu lassen, traue ich mir nicht zu. Einige armdicke Seitenäste der verwilderten Eibenhecke haben mir gezeigt, wie plötzlich sie nach unten stürzen können. Keiner der Äste ist so gelandet, wie ich es gedacht hatte. Auch das Gewicht eines großen Seitenastes oder gar eines ganzen Baumes sind nicht zu unterschätzen. Solange der Baum noch steht, sieht das alles schwebend leicht aus. Der umgestürzte Baum lässt sich dann kaum noch bewegen. In diesem Fall unterschätze ich meine Fähigkeiten ganz bewusst. Lieber zu wenig wagen, als mit dem Baumstamm auf dem Fuß nach dem Krankenwagen zu telefonieren! Daher beginne ich mit einer handlichen Baumsäge Ast für Ast vom Stamm zu trennen. Meter für Meter arbeite ich mich in die Höhe.
Erst beim Sägen wird mir klar, dass der Baum ein Wacholder ist: Er duftet nun so gut wie vorher nie. Und auch einige wenige kleine Wacholder-Perlen entdecke ich nun. Ich lese im Internet nach und erfahre, dass die Perlen (die gar keine Perlen sind, sondern botanisch gesehen Zapfen) und sogar der ganze Baum Heilkräfte hat.
Im Bauerngarten habe ich ganz bewusst einige Heilpflanzen wie Salbei, Thymian und Johanniskraut gepflanzt und versuche von Jahr zu Jahr mehr von diesen Pflanzen im Alltag zu verwenden. Ich habe mein Interesse für Heilpflanzen vielleicht bisher zu sehr auf krautige Pflanzen konzentriert und kam nicht auf die Idee, dass dieses 5 bis 6 Meter hohe „Monster“, das eher einer depressiven Thuja als einem sonnigen Johanniskraut ähnelt, etwas heilkundliches sein könnte.
Was hätte ich getan, wenn ich früher gewusst hätte, dass der Baum ein Wacholder ist? Wie lässt sich ein Baum stützen, wenn er als Ganzes schief ist? Lässt sich selbst jetzt, nachdem ich die Seitenäste bis in drei, vier Meter Höhe entfernt habe, noch irgendetwas retten? Es ist immer wieder erstaunlich, wie sich die eigene Einstellung verändert, wenn man mehr über das Thema erfährt. Ganz gleich ob es nun ein schiefer Baum oder etwas ganz anderes ist.
In etwa 5 Meter Höhe wird die Sache langsam wacklig. Ich hatte einige größere Äste nicht direkt am Stamm abgesägt, damit ich mich, wie an einer Kletterwand festhalten kann. Aber selbst dies reicht mir irgendwann nicht mehr. Gerade als ich überlege, wie ich denn nun weiterarbeiten kann, kommt mir ein Nachbar zu Hilfe und gemeinsam ist es kein Problem die letzten 2 Höhenmeter zu bewältigen und den Stamm dann auf den Hof zu tragen.
Die Situation erinnert mich an einen Vortrag von Veit Lindau, den ich vor einiger Zeit gehört habe. In dem Vortrag ging es um das Thema „Sichtbarkeit“: Erst dann, wenn man mit seinem Thema für andere Menschen sichtbar ist, erreicht man seine Ziele, so lautet ganz grob zusammengefasst der Gedanke von Veit Lindau. Ich hätte tage- und wochenlang in meinem Kämmerchen darüber grübeln können, wie ich denn bloß diesen Baum fälle, und wäre keinen Schritt weiter gekommen. Indem ich mein Vorhaben sichtbar gemacht habe – immerhin habe ich den ganzen Samstagvormittag direkt an der Straße auf der Leiter gestanden und Äste gesägt – haben andere die Chance bekommen, mich zu unterstützen. Zu meinem Glück hat der Nachbar die Chance wahrgenommen, sonst säße ich vielleicht immer noch in 5 Meter Höhe fest.
Interessante und weiterführenden Informationen zum Wacholder finden sich auf der Baum des Jahres-Seite der Dr. Silvius Wodarz Stiftung.