Frühling der Wucherer
Geplagt von der Dürre des letzten Sommers blieb unter der Felsenbirne nach der Zeit, die einmal Winter genannt wurde, nur eine vertrocknete Fläche. Der Teppich aus einst weißen Waldmeistersternen wurde zu einem staubig raschelnden Gestrüpp und die abgestorbenen Farnwedel legten sich als schützende Decke über die verwitterten Wurzelstöcke der Totholzecke. Doch es beginnt sich zu regen. Die ersten Pflanzen nutzen das arglose Braun der welken Blätter als Tarnung und beginnen sichtbar zu werden. Der Salbeigarten ist in den letzten Jahren mehr und mehr ein Tummelplatz der Wucherer. Jeder für sich wirkt freundlich und harmlos. Fast jeder.
Die Pfefferminze mit ihren zahllosen Fangarmen, die heimlich durch das Erdreich pirschen, macht von Anfang an deutlich, dass sie die Herrscherin des Salbeigartens werden möchte. Der knorrige Apothekensalbei und die paar Gartensalbei, die der Fläche den Namen gaben, dürfen gerne bleiben. Solange das Erdreich ihren Pfefferminzfingern gehört.
Der Waldmeister dagegen schwebt für jedermann sichtbar auf der halbschattigen Fläche. Er kommt so luftig und federleicht daher, als könnte ihn ein Lüftchen davonwehen. Könnte es. Hätte er sich nicht mit filigranen Krallen im Boden verankert.
Während Pfefferminze und Waldmeister sich erst langsam auf den neuen Sommer einstellen, leuchtet es bereits in einem freundlich milkafarbenen Blau. Ein neuer Wucherer hat sich eingeschlichen. Der Gundermann nutzt die Zeit des vertrockneten Waldmeisters, um eine weitere seiner Invasionen vorzubereiten. Die hinterlistig unter dem Messer des Rasenmähers entlangwandernden Ranken wollen nach der großen Wiese nun auch den Salbeigarten erobern.
Einige weitere Wucherer siedeln schon ein paar Jahre hier. Es ist erstaunlich, wie viele Pflanzen mit starkem Ausbreitungsdrang es auf derselben Fläche aushalten. Und erst jetzt wird mir bewusst, wie lange sie in den Winterferien bleiben. Wenn der Gundermann schon hier ist, weshalb lungern die Storchschnäbel noch in den Ferien herum? Die Lampionblume, nun gut, sie ist immer die letzte, die abreist. Sie wird schon noch wiederkommen. Aber ob sie dann noch ein freies Plätzchen Erde findet, darum muss sie sich selbst kümmern.
Es wird ein ziemliches Gedrängel werden. Es sieht immer so aus als wären Pflanzen festgewachsen und könnten sich nicht von der Stelle bewegen. Aber es gibt ein regelrechtes Wettrennen um diese sonnenschattige Fläche. Von wegen, dass Pflanzen sich ihren Platz nicht aussuchten. Da werden die Wurzeln zu Ellenbogen angespitzt und tausende winzige Blätter zu erdrückenden Teppichen ausgerollt. Es passiert viel, wenn der Salbeigarten erwacht.


Mittsommer
Der Waldmeister überzieht zum ersten Mal seit Jahren nicht den ganzen Salbeigarten mit seinen weißen Sternen. Was geht hier vor? Welche Mächte ziehen hier die Fäden? Natürlich sind hier Mächte am Werk. Natürlich sind sie dunkel. Sonst gäbe es ja eine Lösung.
Ist es nicht wunderbar, wenn finstere Mächte für etwas verantwortlich sind? Ich selbst bin dann so herrlich machtlos und kann mich auf Schimpfen und Zetern konzentrieren, anstatt am Ende noch aktiv an einer Lösung mitzuarbeiten. Ich bin immer für Veränderungen. Immer, nur nicht bei mir. Mit meinem eigenen Handeln hat weder das Verschwinden des Waldmeisters noch sonst etwas zu tun. Nicht wahr, so ist es doch? Ich weiß doch längst, wer hinter all diesen Veränderungen steckt. Obi-Wan Kenobi. Er war es. Mit seinem Lichtschwert. Ich weiß es genau.
Während ich noch Obi-Wan Kenobi, den Jedi-Ritter aus den Star Wars Filmen meiner Jugend, für das Verschwinden des Waldmeisters verantwortlich mache, hat sich im Norden des Salbeigartens ein waldhoher Farn ausgebreitet. Zu seinen Füßen entstand aus der Wurzel eines gefällten Apfelbaumes, einem zerbrochenen Pflanzkübel und jährlich aufgeschichteten Baumschnitt ein kleines Totholzrefugium mit Höhle. Vor Jahren als Neubau der Tierwelt zur Verfügung gestellt. Wohlig ausgepolstert. Regengeschützt. Allerdings ohne Kamera und Bewegungsmelder. So erfahre ich leider nicht, wer dort lebt. Wenn wirklich ein Igel dort wohnte, hätte ich ihn sicher schon bemerkt. Stattdessen werden viele kleine Krabbeltiere in dieser Vielfalt aus zerfallendem Holz, feuchtem Schatten und höhligem Rückzugsorten leben. Ein Flecken Wildnis zwischen Gartenhaus und Kräutern.
Von den Lampionblumen ist Mitte Mai immer noch nichts zu sehen. Die Akeleien sind dagegen früh dran in diesem Jahr und beginnen bereits zu verblühen. In den vergangenen Jahren waren meine Akeleien eine feste Station bei der Wanderung der Elfenprinzessinnen nach Norden. Zu Mittsommer wollen sie an ihrem Fjord sein. Anfang Juni ziehen sie am Salbeigarten vorbei und nutzen die Gelegenheit, sich für das letzte Stück des Weges neu einzukleiden. Akeleien geben vortreffliche Hüte ab. Aus Salbeiblättern werden robuste Reisemäntel geschneidert und Pfefferminze wandert büschelweise als Vorrat in die Reisetaschen.
Aber in diesem Jahr ist die Auswahl an Akeleien kaum der Rede wert. Alles nur in Dunkelblau. Das geht so gar nicht. Dunkelblau ist an sich kein Fehler, aber es muss eben Auswahl an Farben und Formen geben. Was ist aus den rotgestreiften, den dunkelroten und den fast-weißen Akeleien geworden? Anstatt zartflügeliger Eleganz streiten die Elfen sich wie die Kesselflicker um die schönsten Akeleien, bevor sie zeternd weiterziehen.
Nicht nur die Raunächte öffnen die Tore zur Anderswelt. An Mittsommer ist dies ganz ähnlich. Nicht die geheimnisvolle Dunkelheit weist dann den Weg. An Mittsommer ist es die endlose Helligkeit. Ist es nun Tag oder Nacht? Die Übergänge verschwinden und mit ihnen die Frage nach Traum oder Wirklichkeit.


Dieser Text ist ein Ausschnitt aus dem Buch Uhles Gartengedanken
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Vom ersten Schneeglöckchen bis zu den Raunächten, alles handlich zwischen zwei Buchdeckeln.
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Viel Spaß beim Lesen, Uhle im Garten
