Ein Geschichtenerzähler muss seine Figuren gut kennen, bevor er sie in seine Geschichte lässt. Er ruft die schillerndsten und finstersten Figuren zusammen. Von der gütigen Großmutter bis zum heimlichen Bösewicht. Aber sobald er das Wort ENDE schreibt, ist es vorbei und er ist seine Figuren wieder los. Als Gärtner lebe ich mit meinen Figuren. Umso sorgfältiger muss ich, als Erzähler meines Gartens, die Figuren auswählen.
Welche Geschichte ist es, die der Garten erzählt, als ich ihn das erste Mal betrete? Ist er eine achtköpfige Patchworkfamilie, in der es täglich voller Leben drunter und drüber geht? Mittendrin eine himmelhohe Kastanie. Ein ganzes Menschenleben steht sie schon hier. Rundherum viele leuchtende Löwenzahn- und Schafgarbe- und Wiesenschaumkraut- und Habichtskrautblüten, die Farbe und Salat in jeden erdenklichen Winkel des Gartens bringen.
Oder ist der Garten doch ein altes Ehepaar, das sich selbst und das Leben verstauben lässt? Jeden Morgen die immergleiche Scheibe gesundes Vollkornbrot. Nach dem Frühstück wird der Teller sofort abgespült. Keiner der 137 Lebensbäume, die jedes Licht und jede Lebendigkeit aus dem Garten fernhalten, tanzt aus der Reihe. Der Zaun zur Straße verdeckt die kahlen Stellen an den Füßen der finsteren Abwehrpflanzen.
Wie wird sie werden, meine Geschichte dieses Gartens? Weiß ich sie überhaupt selbst schon? Der Garten weiß sie genausowenig. Gemeinsam gehen wir auf Entdeckungsreise. Erleben die ersten Sommer voll jugendlichen Wirbelns. Die ersten Winter mit philosophischer Einkehr. Jedes Jahr neu. Nun, nach einigen ersten Jahren, bin ich selbst erstaunt, welch Ensemble an Figuren und Bewohnern sich hier versammelt hat.
Da sind die Tomatenprinzessinnen. Sie werden als erste genannt. Immer. Selbst jetzt im Winter, obwohl sie gar nicht da sind. Wie schaffen sie das bloß? Sie haben natürlich ihren eigenen Bereich. Sie sind nicht irgendwer. Sie sind die Pflanzen, für die gesorgt wird. Und trotzdem nörgeln sie noch herum. Der Sommerflieder stehe zu nah und nehme ihnen die Nachmittagsonne. Ich ließe die Regenschauer zu sehr an sie heran.
Außerdem alle anderen Saisongäste. Der Spinat lässt sich schon wenige Tage nach dem letzten Frost aussäen. Danach die anderen Salate und Gemüse und Sommerblumen. Manche kehren von alleine zurück. Die Ringelblumen finden sich jedes Jahr an anderen Stellen. Andere wollen förmlich eingeladen werden und füllen die Reihen der Anzuchtschalen.
Die Immerdapflanzen geraten meist etwas in Vergessenheit. Obwohl es doch gerade sie sind, die den Rahmen bilden und der Geschichte ihre Struktur geben. Die finsteralte Eibe neben der Gartenbank. Die lange Reihe Hainbuche. Ein fünfzehn Meter breites Stopp-Schild: Hier ist Schluss mit diesem Garten. Wer hier weiterwächst, kommt in ein neues Reich. Giersch und Lerchensporn kümmern solche Warnungen wenig. Das sind die Krawalltouristen in meinem Ensemble. Keine, die ich mir ausgesucht hätte. Sie waren einfach schon vor mir da. Und mit Autorität und Regeln ist den beiden nicht beizukommen.
Ich ahne schon, das wird ein spannendes Jahr:
— Wie werden die verschiedenen Wucherer Storchschnabel, Waldmeister und Pfefferminz den Halbschatten an der Felsenbirne unter sich aufteilen?
— Gelingt es die Amseln davon abzuhalten sämtliche Aroniabüsche abzuernten?
— Lässt sich mit der hinterlistigen Quecke eine Art Friedensvertrag für das Staudenbeet aushandeln?
Über viele Jahre hinweg war heute an Maria Lichtmess der Beginn des bäuerlichen Jahres. So soll auch mein nächstes Gartenjahr heute beginnen. Ein neuer Kreislauf im Leben und Ernten und Sein.