Nachdem ich den Garten von Beatrix Potter besucht habe, erkunde ich jeden Tag einen neuen See, die hier alle „Water“ oder „Mere“ heißen. Heute geht es vom Ort Grasmere über die sogenannte Coffin Route bis zum Ort Rydal und rund um den See Rydal Water.
Coffin Route
Die Coffin Route (zu deutsch: Sargweg) verläuft auf halber Höhe der Hügel oberhalb von Rydal Water und wurde genutzt um Särge Verstorbener von Ambleside zur Kirche in Grasmere zu tragen. Ich bin nicht sicher, wie die Erklärungen zu diesem Sargweg zu verstehen ist. Auch in Rydal, auf halbem Wege zwischen Ambleside und Grasmere, gibt es eine Kirche. Außerdem gibt es am See eine Straße. Es bleibt für mich unklar, wann und weshalb dieser Weg tatsächlich als Sargweg genutzt wurde. In der heutigen Zeit ist die Coffin Route ein eindrucksvoller Wanderweg.
Vieles, das zu Hause bewusst angepflanzt wird, wächst hier wie Unkraut. Der Boden ist von einem Wald von Farn bedeckt. Darüber dann der Wald aus Bäumen. Quasi ein Wald in zwei Etagen. Die kilometerlangen Natursteinmauern sind oft moos- und farnbedeckt oder werden von meterhohen Rhododendren überwuchert. Die Rhododendren wachsen in den am Wegesrand liegenden Gärten vollkommen gleich wie im Wald. Die Grenzen zwischen Garten und Landschaft beginnen zu verschwinden. Ich habe den Eindruck, dass die ganze Landschaft ein Garten ist. Für mich stehen rund um Rydal Water die Farne und Mauern im Vordergrund. Es ist das, was für mich den Blick über diese Gartenlandschaft prägt. Zu anderen Jahreszeiten und mit anderen Augen mag das anders sein.
Es ist nicht das einzelne Bild oder DAS besondere Postkartenfoto, was die Landschaft und die Wanderung so eindrucksvoll macht. Ich habe sogar immer wieder den Eindruck, dass auf den Fotos, die ich mache ein vertrockneter Farn stört oder die Aussicht durch den Sucher gar nicht mehr so strahlt wie kurz zuvor für die Augen. Und doch ist der Gesamteindruck „Ich laufe durch einen aufgeschlagenen Bildband“. Ich komme mir vor wie in einem dieser Kinofilme, in denen dem Helden irgendeine Art von Verwandlung zustößt. (Für den Held ist das oft gar nicht so zauberhaft, wie für den Zuschauer.) Von meinem eigenen Garten aus bin ich durch eine nächtliche Fährfahrt hierher in diesen Bildband geraten und laufe in dieser farngrünen Zauberlandschaft umher. Über Nacht wird dann die nächste Seite aufgeschlagen und ich erlebe neue Abenteuer.
Rydal Hall
Auf halber Strecke der Coffin Route liegt der Weiler Rydal. Aus meinem Wanderführer weiß ich, dass es hier einen Teashop und ein Pub gibt. Außerdem muss ich eine Brücke überqueren und dann bin ich an Rydal Water. Als erstes treffe ich allerdings auf das Haus Rydal Mount. Hier hat der Dichter Wordsworth gewohnt. Als ich mich einen Moment darüber geärgert habe, wie teuer der Eintritt für das Haus und selbst den Garten ist, gehe ich weiter und stehe quasi direkt gegenüber vor einem Schild „Rydal Hall – Gardens free to explore“. Ich habe keine Idee, was Rydal Hall ist, aber ich finde das Schild so einladend und freundlich, dass ich mir diesen Garten gerne ansehen möchte. Ich bin hauptsächlich wegen der Landschaft an sich hierher gekommen. Und weil ich mehr über Beatrix Potter erfahren wollte. Dabei vergesse ich immer wieder, dass England das Land der Gärten ist. Das ist für mich der Bonus zu dieser Reise: Ich wandere durch zauberhafte Landschaften und kann zusätzlich jeden Tag einen anderen Garten besichtigen!
Auf dem kurzen Weg vom Eingangstor zu den Gärten von Rydal Hall komme ich am Teashop vorbei. Ich bin erst kurz unterwegs und für eine echte Rast gibt es noch keinen Grund. Aber die Teestube von Rydal Hall so verlockend aus, dass ich doch für ein Tee und ein Scone dort bleibe. In Deutschland gibt es in den Städten viele ausgezeichnete Cafés. Auf dem Land hingegen ist die Ortsmitte dann oft das Stehcafé des Dorfbäckers. Was für ein Wort Stehcafé! Also entweder Stehen oder Kaffeetrinken aber beides in einem Wort? Diese Plätze sollten vielleicht eher Kaffeebecherausschank heißen. Hier in England fühlt es sich dagegen so an, als sei ich nie weiter als eine Meile vom nächsten Teashop mit einer Kanne Tee und einer kleinen Süßigkeit entfernt. Hm, so ein Zwischendurchtee mit Scone ist eine feine Sache.
Vom Teashop aus sind es dann nur ein paar Schritte zu einer Pforte in den Garten. Bevor ich hineingehe erläutert noch schnell eine Info-Tafel, dass Rydal Hall im 15. Jahrhundert von der Familie le Fleming erbaut wurde, dass es eine Grotte aus dem Jahr 1668 gibt und das Anwesen heute der Kirche gehört. Durch die Pforte hindurch, befinde ich mich ganz am Rand des formalen Gartens. Ein Wegweiser zeigt mir den Weg zum pittoresken Garten mit der erwähnten Grotte. Die Gärten – ja es sind eindeutig verschiedene Gärten – von Rydal Hall sind ein echtes Wow! Hier hat jemand gearbeitet, der Ahnung von seiner Sache hat.
Der formale Garten bietet das klassische Rondell in der Mitte. Dazu weite Rasenflächen, ein Blick über die Landschaft und geometrisch angeordnete Rabatten. So sieht es auf den ersten Blick aus. Als ich näher hinschaue, erkenne ich, dass zwar die Einfassungen der Rabatten geometrisch sind, sich aber die Bepflanzung nicht regelmäßig wiederholt, sondern rechts der Haupttreppe anderes wächst als links. Auch auf den großen Rasenflächen gibt es mehrere steinern eingefasste Rabatten. Als ich sie näher betrachte sehe ich, dass die Blumen in den Rabatten zum großen Teil verblüht sind. So etwas kenne ich aus Deutschland nicht. Da rücken die Gärtner oder Straßenmeistereien an und tauschen die Pflanzen aus, damit es wieder blüht. Ich halte das schon immer für Unsinn, aber hier sehe ich zum ersten Mal, dass es auch anders geht. Eine Staude blüht so lange sie blüht. Und wenn sie nicht mehr blüht ist es immer noch eine Staude und sie wächst an der gleichen Stelle wie zuvor. Aber die Krönung ist es, Giersch als Staude zu verwenden. Er wuchert nicht mal da und mal dort als Unkraut hervor, nein, er hat meterweise Rabatte für sich alleine. Er gehört dazu!
Von der großen Treppe aus habe ich einen weiten Blick über den Garten und die Landschaft, die sich daran anschließt. Als ich dort stehe, frage ich mich, wie sich der Garten von der Landschaft unterscheidet. Ein Garten, in dem verblühtes bleiben darf und Unkraut die Staudenrabatte mit gestaltet. Eine Landschaft, in der Pflanzen, die ich bisher nur als behütete Gartenexemplare kenne, von alleine wachsen. Die Übergänge sind fließend. Damit beginnen die Definitionen zu verschwimmen. Was meint der Begriff „Garten“, wenn außerhalb des Gartens sehr ähnliche Pflanzen mühelos gedeihen? Ich kenne „Garten“ bisher als eine Fläche, die ich selbst gestalte. Diese Arbeit gibt mir Erfüllung, weil ich erlebe, dass mein Handeln zu sichtbaren und greifbaren Ergebnissen führt. Bei aller Freude an meinem Tun, ist immer auch die Anstrengung mit dabei. Es kostet Zeit und Mühe, den Garten zu gestalten, Pflanzen anzusiedeln und zum Bleiben zu bewegen. Im Lake District erlebe ich eine andere Bedeutung des Wortes Garten. Der Garten erscheint mir hier als Teil der Landschaft. Zwar eingegrenzt und durchaus mit Heckenschere und Rasenmäher bearbeitet, aber es ist ein Bearbeiten des Vorhandenen im Gegensatz zur Ansiedelung des Gewünschten.
Rydal Water
Ich hatte nicht geplant in Rydal Station zu machen und nun habe ich außer einer spontanen Teepause auch noch einen unerwarteten Garten gesehen. So kann es die nächsten Tage gerne weitergehen! Nach dieser Zwischenstation komme ich jetzt zum Anfang meiner Beschreibung des Weilers Rydal zurück und überquere die Brücke. Nach einem kurzen Weg durch ein Wäldchen laufe ich entlang des Sees Rydal Water in Richtung Grasmere zurück. Auf dem Hinweg von Grasmere nach Rydal hatte ich den Blick von oben auf den See und habe mehrfach gedacht, dass der Blick schöner wäre, wenn nur dieser eine Baum oder dieser vertrocknete Farn nicht störte. Mittlerweile laufe ich am See entlang und entdecke in den Hügeln auf der gegenüberliegenden Seite die Coffin Route. Ich muss schmunzeln, als ich den Gedanken entdecke, dass der Blick schöner wäre, wenn nicht ständig Autos durch das Bild fahren würden.
Nach all dem, was ich heute gesehen habe, bin ich sicher, dass das Besondere dieser Landschaft genau diese Mischung ist. Es gibt nicht das Highlight, zu dem alle pilgern und sich um das beste Bild balgen. Stattdessen liegt hier ein freundlicher See herum. Endlose Kilometer Natursteinmauern geben Wiesen und Feldern Struktur. Einzelne Wanderer durchqueren im Schritttempo das Bild. Rhododendren und zahlreiche Farne wachsen von alleine besser als sonst im Botanischen Garten. Alles zusammen macht diese Landschaft aus. Eine unaufgeregte Mischung. Lässig wie ein Spätsommernachmittag. Als der Weg Rydal Water verlässt, entscheide ich mich dafür, nicht auch den Bogen um den See Grasmere zu laufen, sondern für den Nachmittagstee zu meiner Unterkunft zurück zu gehen. Was ich jetzt noch gebrauchen könnte, wäre eine Fee, die mal kurz eben die Zeit anhält bis ich sämtliche Gedanken und Erlebnisse notiert habe.
Schöne Eindrücke, Danke!
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